Von Julius Pfeuffer.
Wie kommen wir beim Stromnetzausbau weiter? Um den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien bei gleichzeitigem Anstieg unseres Stromverbrauchs schultern zu können, bedarf es laut des Koalitionsvertrags einer zügigen Umstellung der Energieinfrastruktur auf ein robustes „Klimaneutralitätsnetz“. Eine Studie der Denkfabrik „Agora Energiewende“ taxiert den hierdurch ausgelösten Mehrbedarf an zusätzlichen Stromleitungen und Leitungsverstärkungen im Höchstspannungsbereich auf über 34.000 km. Diesem Mehrbedarf stehen gemäß dem Monitoringbericht der BNetzA nur ca. 14.000 km an bereits bestehenden Stromleitungsprojekten gegenüber, von denen bis heute lediglich 20% fertiggestellt sind. Gerade bei den wichtigen Gleichstromleitungen, deren vordringlicher Bedarf bereits 2013 festgestellt wurde (A-Nord, Ultra-Net, SuedLink, SuedOstLink etc.), dauert die durchschnittliche Projektlaufzeit 14 Jahre bis zur Fertigstellung. Die Ursachen hierfür sind vielseitig. Spitzenreiter der meistgenannten Gründe für eingetretene Verzögerungen sind laut einer aktuellen Umfrage der erhebliche Mangel an qualifiziertem Personal in Kombination mit einem erhöhten Ermittlungs-, Darlegungs- und Prüfaufwand. Viel spricht dafür, dass ein Klimaneutralitätsnetz ohne spürbare Beschleunigung nicht gelingen wird. Ob dies allein auf den ausgetretenen Pfaden möglich ist, muss bezweifelt werden.
Daher horcht man auf, wenn einem Schweizer Technologieunternehmen nun offenbar der große Durchbruch gelungen ist. Das Programm „Pathfinder“ der Gilytics AG, ein spin-off der ETH Zürich, verspricht die komplexen Herausforderungen der Energieinfrastruktur unter gleichzeitiger Berücksichtigung von ökologischen und sozialen Einschränkungen durch eine softwarebasierte Korridorfindung zu meistern. Seine Anwendung sei einfach und kosteneffizient, transparent und flexibel. Hierbei dürfte es sich – soweit ersichtlich – um die erste marktfähige Software handeln, mit der linienförmige Infrastrukturen geplant werden.
Laut einem aktuellen Gesetzentwurf könnten die Planungsbehörden bald in großem Stil von dieser technologischen Innovation Gebrauch machen und sie als Entscheidungshilfe für die Ausweisung sogenannter Infrastrukturgebiete (§ 12j EnWG-E) verwenden. Bei ersten Pilotprojekten ist die neue Technologie bereits im Einsatz. Wurde hier tatsächlich der „Heilige Gral“ für eine optimale Linienführung gefunden?
Funktionsweise des algorithmenbasierten Entscheidungshilfesystems
Bei „Pathfinder“ handelt es sich um ein softwarebasiertes Entscheidungshilfesystem, namentlich um ein 3D Decision Support System (3D DSS). Um eine rechtliche Ersteinschätzung über besonders geeignete Plangebiete zu erhalten, muss das Tool zunächst mit Daten über bestehende Raum- und Bauwiderstände gefüttert werden.
Eine Möglichkeit, sich diese Daten zu beschaffen, ist der Rückgriff auf Bestandsdaten. In Deutschland ließe sich das Planinformationssystem des BBSR (ROMPLAMO) nutzen, welches Festlegungen der Landes- und Regionalplanung erfasst und darstellt. Als weitere Planungsgrundlage für Raum- und Strukturanalysen bieten sich u.a. landschaftsbezogene Geoinformationen an, wie sie durch das ATKIS Basis-DLM oder vom Bundesamt für Naturschutz aufbereitet werden.
In einem zweiten Schritt müssen die ermittelten Daten in Raum- und Bauwiderstandsklassen übersetzt werden. Das hierfür erforderliche Bewertungsschema ergibt sich aus den Festlegungen des jeweiligen Planungsträgers, in das gesetzliche Grundlagen oder auch Befragungen einfließen können. Allgemein gilt: Je höher die Widerstandsklasse, desto weniger ist das Gebiet für die Trassierung geeignet und desto weiter wird die Leitung von dem entsprechenden Gebiet weggestoßen. Sollen ausgewiesene Naturschutzgebiete oder Siedlungsräume von einer Trassierung verschont bleiben, müssen sie in eine entsprechend hohe Widerstandsklasse eingeordnet werden. Eine wichtige Rolle spielt zudem die technische Ausführungsart der Stromtrasse. Denn abhängig davon, ob eine vorzugsweise Ausführung als Erdkabel oder Freileitung vorgeschrieben ist, ergeben sich ganz unterschiedliche Umwelteinwirkungen und planungspraktische Belange (Appel, in: FS Säcker, 2021, S. 369 <377 ff.>).
Das so ermittelte Konfliktpotenzial wird auf ein Rasternetz übertragen. Der Algorithmus sucht sich dann den Weg des geringsten Widerstands. Er aggregiert eine Raumwiderstandskarte zwischen dem Anfangs- und Endpunkt der linienbezogenen Infrastruktur. Dabei ist „Pathfinder“ keine lernende KI im engeren Sinne. Vielmehr leitet das softwarebasierte System seine Ergebnisse aus der Wissensbasis nach klar definierten Regeln rein kausal ab. Die Ergebnisentwicklung vom Input zum Output ist keine „Blackbox“ (abstrakt zur Unterscheidung Timmermann, Legal-Tech-Anwendungen, 2020, S. 62 f., 66). Am Ende des Prozesses steht ein mäandrierender Gebietsstreifen, aus dem inselförmige Bereiche mit erwartbar höherer Konfliktlage ausgenommen sein werden. Dieser Gebietsstreifen bildet die Arbeitsgrundlage für alle nachfolgenden Prozesse.
Mögliche Eingliederung in das deutsche Planungssystem für Stromleitungen
Kürzlich hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf vorgelegt, nach der Infrastrukturgebiete softwaregestützt ermittelt werden sollen. Der Entwurf ist auf die Verwendung des benannten Entscheidungshilfesystems zugeschnitten. Vom Anwendungsbereich erfasst seien etwa neue Energieleitungsmaßnahmen (§ 12j Abs. 1 S. 1 EnWG-E); aber auch bereits bestehende Planungsräume können rückwirkend als solche anerkannt werden (§ 43n Abs. 2 EnWG-E). Bevor man sich der Frage zuwendet, wie die neue Entscheidungshilfe am sinnvollsten in das deutsche Planungs- und Genehmigungsregime zu integrieren ist, muss ein kurzer Seitenblick auf die unionalen Rahmenbedingungen geworfen werden.
Denn am 20. November 2023 traten umfassende Neuregelungen der EU-Erneuerbaren-Energien-Richtlinie in Kraft, die gegenwärtigen Umsetzungsbedarf in den Mitgliedstaaten auslösen. Beim Stromnetzausbau setzt die europäische Union neuerdings verstärkt auf einen präventiv-planerischen Ansatz unter gleichzeitiger Entlastung des materiellen Prüfprogramms auf Zulassungsebene (Sobotta, NVwZ 2023, 1609 <1611 ff.>). Nach dieser zweistufigen Kaskade können die Mitgliedstaaten auf einer vorgelagerten Ebene zunächst bestimmte Flächen ausweisen, die für die Umsetzung von Netzprojekten besonders geeignet sind (Infrastrukturgebiete). In diesem Fall muss das Untersuchungsgebiet bestimmte Rahmenvorgaben beachten. Insbesondere ist eine Strategische Umweltprüfung (SUP) mit Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen, besonders sensible Gebiete sollen ausgespart werden und es sind gebietsspezifische Standard-Minderungsmaßnahmen festzulegen, um negative Umweltauswirkungen der Leitungsprojekte auf ein hinnehmbares Maß zu reduzieren (Art. 15e Abs. 1 RED III). Hingegen äußert sich der Richtliniengeber nicht zu der Frage, ob die Erstellung von Infrastrukturgebieten auch algorithmenbasierte Raumwiderstandsanalysen erlaubt. Dieser Punkt dürfte dem Spielraum der Mitgliedstaaten unterfallen. Liegt ein Netzprojekt innerhalb des ausgewiesenen Infrastrukturgebiets, profitieren die Vorhabenträger auf der Zulassungsebene von einem verkürzten Schnellgenehmigungsverfahren. Bisher durchzuführende Umweltverträglichkeitsprüfungen, FFH-Verträglichkeitsprüfungen und artenschutzrechtliche Prüfungen entfallen und werden – vereinfacht gesagt – durch ein abgekürztes Überprüfungsverfahren (Screening) auf Basis vorhandener Unterlagen ersetzt (vgl. Art. 15e Abs. 2-4 RED III).
Demgegenüber untergliedert sich das seit 2011 dominierende System zur Realisierung von Höchstspannungsleitungen grundsätzlich in fünf Schritte: In Deutschland werden zunächst einzelne Szenarien entworfen, wie sich Stromerzeugung und -verbrauch in den kommenden Jahren verändern werden (Szenariorahmen). Darauf aufbauend ermitteln die Netzbetreiber gemeinsam mit der BNetzA alle zwei Jahre, wo das Stromnetz optimiert, verstärkt oder ausgebaut werden muss (Netzentwicklungsplan). Dieser Prozess mündet in der turnusmäßigen Aktualisierung des Bundesbedarfsplans, dessen Anlage wiederum die energiewirtschaftliche Notwendigkeit und den vordringlichen Bedarf der dort aufgeführten Vorhaben gesetzlich festlegt. Für einige länder- bzw. grenzüberschreitende Stromleitungsprojekte weist die BNetzA im anschließenden Bundesfachplanungsverfahren einen rechtsverbindlichen Trassenkorridor mit einer durchschnittlichen Breite von 500-1.000 m zwischen den Anfangs- und Endpunkten aus. Der genaue Verlauf einer Leitung innerhalb des Trassenkorridors bestimmt sich wiederum erst im Planfeststellungsverfahren, das mit der Zulassungsentscheidung der Behörde endet.
Für die Umsetzung der unionsrechtlichen Regelungen ist derzeit auf Basis der noch im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Novelle des EnWG vorgesehen, dass die Ausweisung eines Infrastrukturgebieteplans in der Ebene nach dem Abschluss der Bedarfsfeststellung (§ 12j Abs. 9 S. 1 EnWG-E), aber vor dem Beginn des Planfeststellungsverfahrens (§ 43n Abs. 1 EnWG-E) erfolgen soll. Gleichzeitig ersetzen die algorithmisch vorbereiteten Planungsentscheidungen qua gesetzlicher Anordnung (§ 43n Abs. 7 S. 3 EnWG-E i.V.m. § 5a Abs. 4a NABEG) die zeitaufwändigen Bundesfachplanungsverfahren. Konkret soll der fünf bis zehn Kilometer breite Gebietsstreifen dem Umweltbericht als SUP-Untersuchungsraum zugrunde gelegt werden (BT-Drs. 20/11226, S. 69). Auf den ersten Blick ließe sich dieser Prozess effizienter in die Vorbereitung des Bundesbedarfsplans integrieren, ohne dass es hierzu einer gesonderten Planungsebene bedürfte. Jedoch hat die Verortung zwischen Bedarfsplanung und Planfeststellung ihren Grund wahrscheinlich darin, dass sich die Zuständigkeiten der Bundes- oder Landesbehörde mitunter erst aus den Festlegungen des Bundesbedarfsplangesetzes ergeben.
Wo liegen die Grenzen des Einsatzes von Entscheidungshilfesystemen?
Bereits die Bezeichnung „Entscheidungshilfesystem“ lässt erahnen, dass ihrer Verwendung bei hochkomplexen Infrastrukturentscheidungen praktische Grenzen gesetzt sein müssen. „Pathfinder“ ist als Hilfestellung konzipiert. Es kann die ebenengerechte Abwägungs- und Abschichtungsentscheidung von Planungsfachleuten nicht ersetzen (vgl. allgemein Kment/Borchert, Künstliche Intelligenz und Algorithmen in der Rechtsanwendung, 2022, Rn. 48). Deshalb bedürfen die aggregierten Raumkorridore eigentlich in einem zweiten Schritt einer menschlichen Überprüfung, um die Robustheit ihrer Außengrenzen, die Passierbarkeit von Engstellen oder die Nutzung vorhandener Bündelungsoptionen sicherzustellen. Leider finden sich hierzu keine näheren Ausführungen in den Gesetzesmaterialien. Scheinbar soll es der Methodik der jeweiligen Planungsbehörde überantwortet werden, eine solche Korrektur nach eigenem Ermessen durchzuführen.
Dabei gibt es mindestens zwei Gründe, um das fachplanerische Überprüfungsverfahren gesetzlich zu regeln. Erstens hängt der konkrete Verlauf des aggregierten Gebietsstreifens maßgeblich von der eingespeisten Datenqualität ab. Greift der Planungsträger auf veraltete oder unvollständige Datensätze zurück (so die Kritik des Bundesrates zu ROMPLAMO-Daten), besteht die Gefahr, dass das ausgewiesene Infrastrukturgebiet nicht den tatsächlichen Bedingungen vor Ort entspricht. Und zweitens löst der erstellte Korridor, der nicht eigenständig anfechtbar sein soll, eine relative Bindungswirkung für das nachfolgende Zulassungsverfahren aus. Mögliche Trassenalternativen dürfen den mäandrierenden Gebietsstreifen lediglich aus triftigen Gründen verlassen (§ 43n Abs. 7 S. 2 EnWG-E). Normalerweise erlaubt der Gesetzgeber ein solches „Ausbrechen aus dem Korridor“ nur, wenn die Projektrealisierung ansonsten gegen Verbote des Arten- oder Gebietsschutzes verstieße. Führt man sich hingegen vor Augen, dass eben jene Umweltprüfungen nach der revidierten EU-Erneuerbare-Energien-Richtlinie entfallen, würde dies eine „faktische Bindungswirkung“ an das Infrastrukturgebiet bedeuten (Gedanke angelehnt an Kohls/Boerstra, EnWZ 2024, 160 <163 f.>), die der absoluten Bindungswirkung von Bundesfachplanungsentscheidungen sehr nahe kommt. Insgesamt besteht also ein gesteigertes Interesse daran, dass die ausgewiesenen Räume verlässlich sind.
Blick in die Praxis
Es wurde eingangs erwähnt, dass algorithmenbasierte Entscheidungshilfen bei ersten Pilotprojekten bereits im Einsatz sind. Das betrifft in erster Linie den Schweizer Übertragungsnetzbetreiber „Swissgrid AG“, der das Tool aktuell bei drei Pilotvorhaben benutzt. Diese befinden sich in der Projektierungsphase und bedurften aus rechtlichen Gründen gleich mehrerer Raumkorridore. Darüber hinaus nutzt auch die Schweizerische Bundesbahn („SBB“) den „Pathfinder“ zur Weiterentwicklung ihres Eisenbahnnetzes. Hier deutet sich bereits die Vielseitigkeit möglicher Einsatzgebiete an.
In Deutschland tauchte die Technik erstmals im Zusammenhang mit der Ermittlung sogenannter „Präferenzräume“ auf, deren Rechtsgrundlagen im Zuge des „Osterpakets“ 2022 eingeführt wurden. Diese funktionieren nach dem vorgenannten Prinzip, setzen aber bereits bei der Netzentwicklungsplanung an und sind in ihrem Anwendungsbereich sehr beschränkt (vgl. Kment/Maurer, RdE 2023, 1 <3 ff.>). Aktuell planen die Übertragungsnetzbetreiber vier Gleichstrom-Erdkabelvorhaben auf der Basis von Präferenzraumen (NordOstLink, Rhein-Main-Link, NordWestLink, SuedWestLink). Diese befinden sich mittlerweile überwiegend in den Planfeststellungsverfahren. Auch für deren Raumkorridore hatte sich die BNetzA zuvor auf den Einsatz des benannten Tools festgelegt. Einem Netzbetreiber zufolge seien durch die Ermittlung von Präferenzräumen drei bis sechs Monate eingespart worden.
(Vorläufiges) Resümee
Reicht diese Zeitersparnis schon aus, um algorithmenbasierte Koordinierungswerkzeuge als den „Heiligen Gral“ der Beschleunigungsgesetzgebung zu preisen, nach dem der Gesetzgeber schon so lange sucht? Jedenfalls lässt sich die Software als pragmatische Antwort auf den allgegenwärtigen Fachkräftemangel verstehen. Das setzt die richtigen Akzente. Gleichzeitig sollte ihre Steuerungskraft nicht überdehnt werden. Die Software dient primär als Hilfestellung und ist gerade deshalb mit der gebotenen Umsichtigkeit zu verwenden. Sie vermag weder die Abwägungsentscheidung von Planungsfachleuten zu ersetzen, noch hat sie den Selbstanspruch, die Arbeit von Bohrunternehmen, Ingenieuren oder Umweltkartierern zu übernehmen, die für unsere Energiewende so händeringend benötigt werden.
Auch hinsichtlich der Transparenz von algorithmenbasierten Korridorentscheidungen ergibt sich derzeit ein gespaltenes Bild. Natürlich kann die kartografische Darstellung der Planungsräume oder die Offenlegung verwendeter Datenlagen dazu führen, dass sich die Betroffenen ein besseres Bild vom Leitungsprojekt machen können. Doch selbst die „objektivste“ Lösung im Sinne des Gesamtnutzens hat ihre einzelnen Konfliktlagen. Hinzukommt, dass die Alternativenprüfung zwischen der Vielzahl an Teillösungen automatisiert stattfindet und eine gesonderte Begründungspflicht für die Auswahl des mäandrierenden Gebietsstreifens derzeit nicht vorgesehen ist. Erste Presseberichte aus den Antragskonferenzen zum Rhein-Main-Link lassen deshalb bereits vermuten, dass das Ringen um die optimale Linienführung trotz modernster Technik weiterhin eine mühsames Unterfangen bleibt.
Julius Pfeuffer ist Doktorand im BMBF-geförderten Kompetenznetzwerk Umweltrecht (KomUR) am Lehrstuhl von Prof. Dr. Kurt Faßbender in Leipzig und wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer internationalen Wirtschaftskanzlei. Zum Anbieter der besprochenen Software bestehen keine Verbindungen.