Die Aarhus-Konvention im KlimaSeniorinnen-Urteil

Von Kristina Dierkes.

Am 9. April 2024 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als erstes internationales Gericht über eine Klimaklage entschieden (Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland, 2024). In einem wegweisenden Urteil stellte der EGMR fest, dass der Klimawandel die Ausübung der Menschenrechte so stark beeinträchtige, dass sich daraus eine Pflicht der Konventionsstaaten ergebe, geeignete Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen. Im konkreten Fall habe die Schweiz durch ein unzureichendes Klimaschutzkonzept das Recht auf Privat- und Familienleben gem. Art. 8 der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und durch die Abweisung der Rechtsbehelfe des Vereins ‚KlimaSeniorinnen Schweiz‘ durch die nationalen Behörden und Gerichte dessen Recht auf Zugang zu Gericht gem. Art. 6 § 1 EMRK verletzt.

 

Neben diesem materiell-rechtlichen Vorstoß erkannte der EGMR in seinem Urteil erstmals an, dass Verbände im Namen ihrer Mitglieder oder anderer Betroffener auf einen strengeren Klimaschutz klagen können (locus standi). Im Gegensatz zu den vier anderen Individualbeschwerden, bei denen er den Beschwerdeführenden die nach Art. 34 EMRK erforderliche Opfereigenschaft absprach, erklärte der Gerichtshof die Beschwerde des Vereins überraschend für zulässig. Bei der Entwicklung dieses neuen Verbandsklagerechts bezog sich der EGMR maßgeblich auf die Aarhus-Konvention. Sie regelt den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, und stärkt damit insbesondere die Position von Umweltverbänden. Durch diese Bezugnahme hat der EGMR der Konvention zusätzliches Gewicht verliehen. Dies ist vor dem Hintergrund bedeutsam, dass Umweltverfahrensrechte derzeit oftmals als Belastung empfunden und eingeschränkt werden (Ryall, A Brave New World: The Aarhus Convention in Tempestuous Times, JEL 35, 2023).

Der EGMR und die Aarhus-Konvention

Die EMRK, deren Einhaltung der EGMR überprüft, enthält einen Katalog allgemeiner Grund- und Menschenrechte. Die Aarhus-Konvention hingegen garantiert mit den Umweltverfahrensrechten spezifische Menschenrechte. Einige Entscheidungen, in denen der EGMR auf die Aarhus-Konvention Bezug nimmt, zeigen, dass in bestimmten Fällen die Rechte beider Konventionen berührt sein können. In diesen Fällen können die Betroffenen je nach Erfolgsaussichten und unter Berücksichtigung von Praktikabilitätserwägungen wählen, ob sie sich an den EGMR oder an das Aarhus Convention Compliance Committee (ACCC) wenden. Letzteres wurde eingerichtet, um die Einhaltung der Aarhus-Konvention im Rahmen eines Compliance Mechanismus zu gewährleisten.

Sofern die Wahl auf ein Beschwerdeverfahren vor dem EGMR fällt, ist der Prüfungsmaßstab für eine Konventionsverletzung selbstverständlich die EMRK. Der EGMR legt die Bestimmungen der EMRK jedoch im Lichte anderer völkerrechtlicher Texte und Instrumente aus. Einer dieser Rechtstexte ist die Aarhus-Konvention (Demir and Baykara v. Turkey, 2008). Seit Inkrafttreten der Aarhus-Konvention im Jahr 2001 hat der EGMR in 14 Entscheidungen auf die Konvention Bezug genommen.

In einigen Entscheidungen des EGMR wurde die Konvention lediglich in der Aufzählung der zu berücksichtigenden völkerrechtlichen Texte erwähnt. In der Begründetheitsprüfung spielte die Aarhus-Konvention bisher vor allem bei der Prüfung einer Verletzung von Art.  8 und Art. 6 § 1 EMRK eine Rolle. So hat der EGMR bei der Frage, ob umweltrelevante staatliche Entscheidungen gegen Art. 8 EMRK verstoßen, auch den Entscheidungsprozess und damit die Einhaltung umweltrechtlicher Verfahrensrechte in seine Prüfung einbezogen (Taşkin and Others v. Turkey, 2005). Der Gerichtshof hat die Aarhus-Konvention auch bei der Bestimmung eines „civil rights“ im Sinne des Art. 6 § 1 EMRK herangezogen (ebenda). In Collectif Stop Melox and Mox v. France (2007) würdigte der EGMR die wichtige Rolle der Umweltverbände in der heutigen Zivilgesellschaft und schuf damit die Grundlage für seine Argumentation im KlimaSeniorinnen-Urteil. Nur in zwei Entscheidungen setzte sich der EGMR ausführlicher mit der Aarhus-Konvention auseinander (Lesoochranárske zokupenie VLK v. Slovakia und Austin v. United Kingdom, 2017), jedoch bei weitem nicht in dem Umfang wie in seinem KlimaSeniorinnen-Urteil.

Legitimitätsgewinn der Aarhus-Konvention durch das KlimaSeniorinnen-Urteil

Im KlimaSeniorinnen-Urteil hat sich der EGMR sehr ausführlich mit der Rolle, die die Aarhus-Konvention Verbänden im Umweltschutz zuweist, und einer entsprechenden Erweiterung der Klagebefugnis in den Konventionsstaaten auseinandergesetzt. Durch diese Bezugnahme stärkt er die Konvention.

Der EGMR sieht sich derzeit einer Reihe von Kritikpunkten ausgesetzt, darunter eine dauerhafte Überlastung durch zehntausende anhängige Fälle, eine zunehmend unbefriedigende Umsetzung der Urteile durch die Konventionsstaaten oder den Vorwurf einer politischen Einflussnahme durch seine Urteile (Dzehtsiarou/Greene, Legitimacy and the Future of the European Court of Human Rights, Ger. Law J.12 (10) 2011, 1707 ff.; Nußberger, Zu viel Europa? Europäische Gerichte in der Kritik, APuZ 08.09.2017). Dennoch ist der Gerichtshof eine feste Größe im europäischen Menschenrechtssystem. Seine Rechtsprechung findet über die Grenzen der Konventionsstaaten hinaus Beachtung. Dies gilt insbesondere auch für das KlimaSeniorinnen-Urteil. Denn mit diesem Urteil hat der EGMR als erstes internationales Gericht überhaupt über eine Klimaklage entschieden – und zwar im Sinne des Beschwerdeführenden. Das Urteil wird Auswirkungen auf zukünftige Klimastreitigkeiten weltweit haben. Der EGMR hat bei der Entwicklung der klimaschutzrechtlichen Verbandsklage argumentativ die Aarhus-Konvention herangezogen. Dadurch hat er das Vertragsregime insgesamt sowie die Position des ACCC im Rahmen des Compliance Mechanismus gestärkt. Dies könnte sich wiederum positiv auf die Durchsetzung der Umweltverfahrensrechte auswirken.

Vereinigungen: Abgrenzung Opfereigenschaft und Vertretung (locus standi) vor dem EGMR

Wie aber ist die Aarhus-Konvention in die Argumentation des EGMR im KlimaSeniorinnen-Urteil eingeflossen?

Ausgangspunkt für die Entwicklung der klimaschutzrechtlichen Verbandsklage war die Frage, ob dem Verein ‚KlimaSeniorinnen Schweiz‘ eine Opfereigenschaft im Sinne des Art. 34 EMRK zukommt oder ob er die Interessen seiner Mitglieder vor dem EGMR vertreten darf (locus standi).

Um Popularklagen zu verhindern, erkennt der EGMR bei Vereinigungen grundsätzlich nur dann eine Opfereigenschaft an, wenn sie durch die beanstandete Maßnahme unmittelbar in ihren Interessen betroffen sind. Es genüge nicht, dass die Interessen ihrer Mitglieder beeinträchtigt sein könnten, auch wenn die Vereinigungen gerade zum Zwecke der Interessenverteidigung gegründet wurden (in einem umweltbezogenen Kontext: Yusufeli İlçesini Güzelleştirme Yaşatma Kültür Varlıklarını Koruma Derneği v. Turkey, 2021).

Unter außergewöhnlichen Umständen könnten Vereinigungen jedoch Opfer vor dem EGMR vertreten, selbst wenn keine Vollmacht vorliegt und die Opfer noch leben (Centre for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu v. Romania, 2014; Association for the Defence of Human Rights in Romania – Helsinki Committee on behalf of Ionel Garcea v. Romania, 2015). Denn, so der EGMR, angesichts vieler komplexer Verwaltungsentscheidungen sei der Rückgriff auf Vereinigungen eines der zugänglichen – und manchmal das einzige – Mittel, das den Bürgern zur Verfügung stehe, um ihre besonderen Interessen wirksam zu verteidigen. Nur so könne ein effektiver Schutz der Konventionsrechte gewährleistet werden (Gorraiz Liarraga and Others v. Spain, 2004).

Die Aarhus Konvention im KlimaSeniorinnen-Urteil

Diese bisherige Rechtsprechung hat der EGMR im KlimaSeniorinnen-Urteil mit Blick auf die Rolle von Vereinigungen bei der Bewältigung der Klimakrise bestätigt und weiterentwickelt. Insbesondere das letztgenannte Argument gelte umso mehr für ein derart globales Phänomen, das nicht nur die Lebensweise der heutigen Menschheit, sondern vor allem auch die von künftigen Generationen stark beeinträchtige. Denn klimabezogene Rechtsbehelfe beträfen oft nicht nur sehr komplexe Rechts- und Sachfragen. Sie erforderten zudem auch erhebliche finanzielle und logistische Ressourcen sowie eine Koordination, die der oder die Einzelne allein nicht leisten könne. Der EGMR schloss sich damit der Argumentation des KlimaSeniorinnen-Vereins an.

Der EGMR verwies sodann auf die Aarhus-Konvention, die Umweltverbänden eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung des Umweltrechts einräume. Deren Stellung sei durch eine Ausweitung der Klagebefugnis innerhalb der EU und in den meisten Mitgliedstaaten des Europarates deutlich gestärkt worden. Auch im klimabezogenen Kontext sei eine Verbandsklage in den meisten Mitgliedstaaten theoretisch denkbar oder bereits gesetzlich oder gerichtlich anerkannt. Doch obgleich der EGMR in seiner Argumentation für eine klimaschutzrechtliche Verbandsklage die Aarhus-Konvention und den Implementation Guide des ACCC heranzieht, so weist er zugleich auf die dabei zu beachtenden Grenzen hin. Dazu zählen die unterschiedliche Schutzrichtung der Konventionen, die Besonderheiten, die mit Klimaklagen einhergehen, sowie die Unterschiede zwischen Fragen der Klimakrise und solchen des traditionellen Umweltschutzes.

Voraussetzungen einer klimaschutzrechtlichen Verbandsklage vor dem EGMR

Im Spannungsfeld zwischen der Vermeidung von Popularklagen und effektivem Rechtsschutz hat der EGMR sodann bestimmte Voraussetzungen für eine klimaschutzrechtliche Verbandsklage aufgestellt.

Um im Namen betroffener Personen die Konventionsstaaten durch eine Beschwerde zu angemessenen Klimaschutzmaßnahmen verpflichten zu können, müssten Vereinigungen (1.) in dem betreffenden Hoheitsgebiet rechtmäßig niedergelassen oder klagebefugt sein.

Sie müssten (2.) nachweisen können, dass sie einen Zweck verfolgen, der mit ihren satzungsgemäßen Zielen im Einklang steht (a.), der dem Schutz der Menschenrechte ihrer Mitglieder oder anderer betroffener Personen innerhalb dieses Hoheitsgebiets dient, die Bedrohungen oder nachteiligen Auswirkungen der Klimakrise auf ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihr Wohlergehen ausgesetzt sind (b.), und der kollektive Maßnahmen zum Schutz dieser Rechte vor den Bedrohungen der Klimakrise umfasst (c.). Und sie müssten (3.) nachweisen können, dass sie als hinreichend qualifiziert und repräsentativ angesehen werden können, um die oben genannten Personen zu vertreten.

Zu den Faktoren, die zum Nachweis herangezogen werden könnten, zählten z.B. der Zweck, zu dem die Vereinigungen gegründet wurden, ihr gemeinnütziger Charakter, die Art und der Umfang ihrer Tätigkeit in dem betreffenden Rechtsgebiet und ihre Mitgliederzahl und Repräsentativität. Damit orientierte sich der EGMR an den Anforderungen, die die Mitgliedstaaten der Aarhus-Konvention an das Verbandsklagerecht von Umweltverbänden knüpfen. Die Vereinigungen müssten nicht zusätzlich die Opfereigenschaft der vertretenen Personen nachweisen.

Fazit

Der EGMR hat die Aarhus-Konvention in seinem KlimaSeniorinnen-Urteil in zweierlei Hinsicht herangezogen: zur Begründung des Erfordernisses einer klimaschutzrechtlichen Verbandsklage und bei der Aufzählung der Kriterien einer hinreichend qualifizierten und repräsentativen Vereinigung. Der Gerichtshof bekräftigt mit dieser ausführlichen Bezugnahme die Position der Aarhus-Konvention und des ACCC im Rahmen des Compliance Mechanismus. Dies könnte sich wiederum positiv auf die Durchsetzung der Umweltverfahrensrechte auswirken. Es bleibt  abzuwarten, ob sich diese Stärkung im Verhalten der Konventionsstaaten niederschlägt, beispielsweise in vermehrten Beratungsanfragen (requests for advice) an das ACCC oder in einem veränderten Umsetzungsverhalten.

Kristina Dierkes ist Doktorandin am Lehrstuhl von Prof. Pascale Cancik an der Universität Osnabrück und Teil des Kompetenznetzwerks ‚Zukunftsherausforderungen des Umweltrechts‘ (KomUR). Sie studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Osnabrück, Straßburg und Bristol. Nach ihrem ersten und zweiten juristischen Staatsexamen sowie einem LL.M. in Internationalem Recht und Internationalen Beziehungen hat sie im Januar 2023 ihre Promotion begonnen. Ihr Forschungsprojekt befasst sich mit der Wirksamkeit des Compliance Mechanismus der Aarhus Konvention.

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