Konsens oder Gemischtwarenladen: Die (Un-)Einigkeit der Mitgliedstaaten bei der „Energiesicherheit“ im Bereich Strom vor dem Hintergrund der polnischen EU-Ratspräsidentschaft

Von Eva-Maria Thierjung.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Energiesicherheit” erfolgt sowohl in der Fachliteratur (Sikora, S. 2989) als auch öffentlichen Diskussion bislang nur sporadisch. Seit dem Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges auf die Ukraine sind sicherheitspolitische Überlegungen, insbesondere auch im Energiesektor, jedoch wieder in den Fokus gerückt. So steht die polnische EU-Ratspräsidentschaft unter dem Motto „Security, Europe!“ und ihr Schwerpunkt soll in der Stärkung von sieben Dimensionen europäischer Sicherheit bestehen; eine davon ist die „Energiewende“. Auch in den rechtswissenschaftlichen Diskursräumen erfolgt nunmehr eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Thematik (so bspw. Sinder/Wiertz, S. 552).

Zwar wird die Energieversorgungssicherheit als „tragende Säule“ (Sikora, S. 2989) des europäischen Elektrizitätsbinnenmarktes bezeichnet und es besteht im Wesentlichen Konsens über das Verständnis dieses Begriffs. Uneinigkeit herrscht jedoch über das „Wie“ ihrer Erreichung. Diese Divergenzen wirken hemmend auf die Verwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes als europäischem Stromverbund, einem durch Vergemeinschaftung von Risiken durchaus die Versorgung absicherndem Mechanismus (Sikora, S. 2989). Auf europarechtlicher Ebene lassen sich die Schwierigkeiten nicht ohne Weiteres beheben: Europäisches Energierecht ist stets von dem primärrechtlich angelegten Spannungsverhältnis zwischen ausdrücklicher unionaler Energiekompetenz (Art. 194 Abs. 1 AEUV) nebst europäischem Versorgungsziel und mitgliedstaatlicher Solidaritätspflicht sowie nationalem Souveränitätsvorbehalt (Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV) geprägt. Da eine Anpassung des Vertragsrechts weder zu erwarten ist, noch ein solches Verfahren als vielversprechend zu qualifizieren wäre, erscheint es sinnvoll, den Fokus auf Maßnahmen zu legen, die der Verwirklichung des „Grundsatzes der Energiesolidarität“ (EuGH C-848/19 P, Rn. 37 ff.) zu dienen geeignet sind. Hierzu zählen insbesondere Maßnahmen, die den (Verbunds)netzausbau fördern.

I. Problemskizze: Energieversorgungssicherheit im europäischen Mehrebenensystem – ein Ziel, viele Wege 

Die energiepolitische Realität auf Unionsebene findet ihren direkten Spiegel in der Struktur des unionalen Energiekompetenztitels: Während die Frage der Energiesicherheit über Art. 194 Abs. 1 lit b AEUV vergemeinschaftet wird, verbleibt u.a. die Entscheidungsgewalt über den Energiemix und seine Struktur bei den Mitgliedstaaten (Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV); eine Sollbruchstelle europäischer Energiepolitik (Böhm, S. 36).

1. Der Begriff der „Energiesicherheit“ aus ökonomisch-technischer Sicht: Auf der Suche nach der „richtigen“ Balance zwischen tragbarem Ausfallrisiko und Kosten

Zwecks terminologischer Klarheit ist zunächst festzuhalten, dass Energiesicherheit im Wesentlichen Energieversorgungssicherheit meint (für die EU s. Art. 194 Abs. 1 lit. b AEUV; für die nat. Rechtsordnung vgl. Winkler BeckOK EnWG § 1 Rn. 20). Mithin ist maßgeblich für die Beantwortung der Frage nach Energiesicherheit, wann genau von Versorgungssicherheit auszugehen ist. Ausgangspunkt ist dabei das technisch-ökonomische Verständnis, welches zunächst die Gründe für Versorgungsunterbrechungen zu identifizieren sucht und anschließend fragt, ob diese in hinreichendem Umfang eingehegt sind (vgl. Wawer, S. 11 ff.). Entsprechend setzt sich dieser Begriff aus zahlreichen Teilaspekten zusammen, die sich auf alle Stufen der Wertschöpfungskette beziehen (Schulte-Beckhausen, Rn. 20). Differenziert wird im Wesentlichen zwischen solchen betreffend der Erzeugungskapazitäten (security of supply bzw. resource adequacy) sowie solchen, die sich auf das Netz beziehen (transmission adequacy); hier insbesondere die Gewährleistung der Systemstabilität. Aus technischer Sicht wäre mithin ein Zustand erstrebenswert, in welchem Komponentenausfälle möglichst umfassend „gebackupt“ werden. Maßnahmen zur Steigerung der Versorgungssicherheit sind allerdings regelmäßig sehr kostenintensiv und stehen im Widerspruch zum weiteren, energiepolitischen Ziel der allgemeinen Bezahlbarkeit. Zudem wäre ein solch (mehrfach) redundantes System, welches die Versorgung aller unter allen Umständen sichert, auch aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive nicht umsetzbar – die notwendigen finanziellen Kosten für Reserve-Anlagen und -Infrastrukturen wären im Verhältnis zum dadurch entstehenden Mehrwert (100% Gewährleistung von Versorgung auch bei – zahlreichen – Ausfällen) nicht zu rechtfertigen.

Mithin besteht ein „optimales“ Niveau an Versorgungssicherheit, welches dem „optimalen“ Verhältnis von Kosten zu akzeptablem Ausfallrisiko entspricht. Dieses ökonomisch vertretbare Niveau an Versorgungssicherheit sucht die Elektrizitätsbinnenmarkt-VO für jeden Mitgliedstaat mithilfe eines Wertes, in welchem im Wesentlichen eine Gegenüberstellung der Optimierung der Kosten gegenüber dem sog. lost load erfolgt (vgl. Art. 21, 23 ff. Elektrizitätsbinnenmarkt-VO). Allerdings dient dieses europarechtlich harmonisierte Vorgehen lediglich zur Identifikation von potentiellen Versorgungsengpässen. Die Ansichten darüber, wie die so ausgemachten Gefahren zu beheben sind, divergieren je nach technisch-ökonomischen sowie gesellschaftlichen Gegebenheiten und energiepolitischer Konzeption.

So hat Deutschland sich für eine Abschaltung der Atommeiler und gesetzliche Kodifizierung der Beendigung des Kohlekraftwerkbetriebs bis 2038 (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 3 KVBG) entschieden und setzt zwecks Kapazitätsdeckung auf einen enormen Ausbau Erneuerbarer, allen voran von Windenergie (80 % der Bedarfsdeckung über EE bis 2030, davon 115 GW Wind onshore bis 2030; vgl. §§ 1 Abs. 2, 4 Nr. 1 lit. d EEG) sowie den Einsatz von Gaskraftwerken als Übergangslösung und Speichern (Stichwort: Kraftwerksstrategie). Ergänzend soll bei Bedarf, insbesondere in Zeiten geringer Einspeisung durch Erneuerbare, Strom aus europäischen Nachbarländern importiert werden (Aktualisierter NECP, 2024, S. 96). Während Deutschland mithin ein „erneuerbare-Energien“-zentriertes Stromsystem bis 2030 plant, sieht Polen ein solches erst ab dem Jahr 2040 vor. Bis dahin soll Energiesicherheit im Wesentlichen (ca. 32-56%) gestützt auf heimische Kohleressourcen erreicht werden (PEP2040, S. 8). Zudem setzt Polen auf Kernenergie und (zunächst nur) ergänzend auf erneuerbare Energien (diese sollen bis 2040 ca. die Hälfte des Strombedarfs decken); ihr Einsatz ist jedoch an die „Aufnahme- und Bilanzierungsmöglichkeiten des Landesenergiesystems“ (PEP2040, S. 67) anzupassen – nicht umgekehrt. Es erfolgt also eine Bewertung aus „Kraftwerksperspektive“: Erneuerbare werden zwar einerseits als Diversifikationsquelle des Erzeugungsportfolios und damit Sicherung des Systems gesehen, andererseits, da sie regelmäßig volatil sind, als De-Stabilisatoren (PEP2040, S. 10).

2. Und was sagt das Recht dazu?
Definitorischer Konsens, aber mitgliedstaatliche Souveränität bei seiner Ausgestaltung

Zunächst ist zu konstatieren, dass eine weitgehende Gleichförmigkeit der rechtlichen Vorstellungen vom Terminus „Energiesicherheit“ innerhalb der unionalen und der deutschen sowie polnischen Rechtordnung besteht.

Gemäß Art. 194 Abs. 1 lit. b AEUV ist eines der vier Ziele der mit dem Lissaboner Vertrag eingeführten Kompetenz der EU für die Energiepolitik die Gewährleistung der „Energieversorgungssicherheit der Union“, verstanden als Sicherstellung der ununterbrochenen Energielieferung (Nettesheim, AEUV, Art. 194 Rn. 16). Erfasst sind damit zunächst die technisch sichere sowie ausreichend breit aufgestellte Versorgung; nicht differenziert wird zwischen Netz- und Erzeugungsebene. Nicht unmittelbar adressiert wird der wirtschaftliche Aspekt der Verfügbarkeit der Energie im Sinne ihrer Bezahlbarkeit (Börner, RdE 2014, 367 [369]). Dieser Aspekt wird aber indirekt über das Ziel der Schaffung eines funktionierenden Binnenmarktes (Art. 194 Abs. 1 lit. a AEUV), welcher gestützt auf wettbewerbliche Strukturen niedrige Verbraucherpreise auf den Endkundenmärkten gewährleisten soll, adressiert.

Im deutschen Energierecht fehlt es zwar an einer Legaldefinition, die Gewährleistung einer „möglichst sichere[n], preisgünstige[n] […] Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität“ findet sich aber im Rahmen des programmatischen Zielsextetts des § 1 Abs. 1 EnWG wieder. Eine sichere Energieversorgung ist nach dem nationalen, deutschen Verständnis ebenfalls mit Versorgungssicherheit gleichzusetzen (Winkler, BeckOK EnWG § 1 Rn. 20); die Preisgünstigkeit der Versorgung wird als gesondertes, weiteres Ziel formuliert, wenngleich diese teilweise aber auch als Aspekt der Versorgungssicherheit verstanden wird (Hellermann/Hermes, Rn. 35) und mithilfe von Wettbewerb erreicht werden soll.

Das polnische Energierecht (Prawo Energetyczne, PrEneG) hingegen fächert den Begriff der „Energiesicherheit“ definitorisch auf und unterscheidet bereits auf legislativer Ebene zwischen „Energiesicherheit“ (bezpieczeństwo energetyczne), verstanden als „eine wirtschaftliche Situation, die es ermöglicht, den gegenwärtigen und künftigen Brennstoff- und Energiebedarf der Verbraucher auf technisch und wirtschaftlich vertretbare Weise zu decken und dabei die Anforderungen des Umweltschutzes einzuhalten“ (Art. 3 Nr. 16 PrEneG), sowie den Unterkategorien „Sicherheit der Elektrizitätsversorgung“ (bezpieczeństwo dostaw energii elektrycznej) (Art. 3 Nr. 16a PrEneG) und der „Sicherheit des Betriebs des Stromnetzes“ (bezpieczeństwo pracy sieci elektroenergetycznej) (Art. 3 Nr. 16b PrEneG). Nach der Konzeption des polnischen Gesetzgebers meint „Energiesicherheit“ mithin auch die Erschwinglichkeit des angebotenen Guts für die Allgemeinheit (Muras/Swora, Rn. 18).

Dieses – weitgehend – konsensuale Verständnis trifft jedoch in dem Souvernitätsvorbehalt des Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV auf eine rechtlich stark ausgeprägte Absicherung der mitgliedstaatlichen Entscheidungsfreiheit über die Ausgestaltung des nationalen Energiemixes, d.h. die Beantwortung der Frage, danach auf welche Primärenergieträger diese Versorgung gestützt werden soll. Damit befindet sich die europäische Energiepolitik stets in einem Spannungsverhältnis zwischen der Verantwortung für die Versorgungssicherheit der EU einerseits und der mitgliedstaatlichen Letztentscheidungskompetenz für ihre Ausgestaltung andererseits.

3. Und was folgt daraus… ?

Diese Situation konfligiert mitunter z.T. erheblich mit dem Elektrizitätsbinnenmarktziel (Art. 194 Abs. 1 AEUV): Conditio sine qua non für einen funktionierenden integrierten europäischen Markt ist der Bestand entsprechender Infrastruktur, nicht zuletzt von sog. Interkonnektoren zwischen nationalen Stromnetzen, welche grenzüberschreitenden Stromfluss ermöglichen. Ihr Bau ist jedoch teuer und mit hohem Amortisationsrisiko verbunden. Entsprechend haben der regulatorische Rahmen sowie die Ausgestaltung der nationalen finanziellen Unterstützung in Gestalt u.a. von Förderprogrammen und monetären Anreizen (Subventionen, Steuervorteile) einen erheblichen Einfluss auf Umfang und Geschwindigkeit des Ausbaus.

Orientierung für die Identifikation der Dringlichkeit solcher Vorhaben sollen den Mitgliedstaaten die in Art. 4 lit. d Nr. 1, 23 Abs. 1 Nr. 1 lit. a i.V.m. Pkt. 2.41.1 Ziff. i Anhang I VO (EU) 2018/1999 (sog. Governance-VO) niedergelegten Indikatoren bieten; gemeinsame Regeln für die rechtzeitige Entwicklung und Interoperabilität der transeuropäischen Energienetze enthält die sog. TEN-E-VO. Maßgeblich ist insoweit v.a., dass der Bau neuer, teurer Infrastruktur bedarfsgerecht zu erfolgen hat und einer Kosten-Nutzen-Analyse unterliegt (Art. 4 lit. d Nr. 1 Governance-VO). Die Ergebnisse dieser Analyse können, je nach jeweils geltendem Förderrahmen und stromwirtschaftlicher Situation, infolge verschiedener energiepolitischer Konzeptionen, auf zwei Seiten einer mitgliedstaatlichen Grenze recht unterschiedlich ausfallen.

II. Auf der Suche nach Lösungsoptionen: Zwischen nationalem Souveränitätsvorbehalt, europäischem Solidaritätsprinzip und Stromverbundziel

Nicht überwunden werden können die divergierenden energiepolitischen Vorstellungen der Mitgliedstaaten durch ein „Machtwort“ der EU: Die Vorgabe einer „Musteranleitung“ für den Aufbau eines resilienten, auf Erneuerbare gestützten, engmaschigen Versorgungssystems ist mit dem Souveränitätsvorbehalt des Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV nicht vereinbar; ungeachtet der Frage, ob eine solche administrativ möglich und mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar wäre.

Allerdings wurde, parallel zur unionalen Energiekompetenz, die mitgliedstaatliche Solidaritätspflicht (Art. 194 Abs. 1 AEUV) eingeführt – eine besondere Ausprägung des allg. Solidaritätsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV). Sie weist, neben einer negativen (gegenseitiges „Nicht-stören“) auch, wie der Fall EuGH C-848/19 P zeigt, eine positive („Unterstützung“) (Börner, RdE 2014, 367 [369]) und durchaus justiziable Dimension auf. So hat der EuGH in dem genannten Rechtsstreit bestätigt, dass der Solidaritätsgedanke nicht bloß abstrakter Natur sei, sondern unmittelbare und u.U. auch einklagbare Rechtswirkungen entfalte (Sölter, S. 133). Tatsächliche Voraussetzung für ihren potentiellen Einsatz als Instrument zur Versorgungssicherung (in diesem Sinne Szafrański, Kap. 9) ist jedoch die physische Möglichkeit des Stromtransports – womit erneut der Verbundgrad der nationalen Stromsysteme relevant wird.

Da dieser von den Mitgliedstaaten bereits früh als unzureichend qualifiziert wurde, wurde im Jahr 2002 zunächst das 10 %-, im Jahr 2014 dann das 15%-Verbundziel (Europäischer Rat, Pkt. 4; Art. 4 lit. d Nr. 1, 23 Abs. 1 Nr. 1 lit. a i.V.m. Anhang I Governance-VO), wonach Verbindungsleitungen mit einer Übertragungskapazität von mind. 15% der vorhandenen Erzeugungskapazität zu schaffen sind (vgl. EWG (2) TEN-E-VO), formuliert. Während für den grenzüberschreitenden Handel die Verpflichtung zur Bereitstellung von Mindestkapazitäten auf – bestehenden – Interkonnektoren unmittelbar in der Elektrizitätsbinnenmarkt-VO festgelegt ist (Art. 16 Abs. 8 VO (EU) 2019/943), ist das Verbundziel, m.a.W. Anzahl und Umfang von grenzüberschreitenden Verbindungsleitungen, (lediglich) in Art. 2 Nr. 11 Governance-VO verankert; einem Rechtsakt von v.a. prozeduralem Charakter (Schlacke/Köster/Thierjung, S. 621). Neben der daraus folgenden Frage nach einer u.U. rein programmatischen Natur des Ziels, erscheint fraglich, inwieweit seine inhaltlichen Vorgaben und die in der Governance-VO angelegten Indikatoren zur Feststellung von Dringlichkeit und Umfang des Ausbaus noch zeit- bzw. systemgerecht sind.

Formuliert ist das Stromverbundziel – und darin liegt die Herausforderung – als relative und bedarfsorientierte Vorgabe; entsprechend bedeutsam sind Bezugsgröße und die Bedarf-indizierenden Faktoren. Die Bezugsgröße, die sich erst aus der Präambel der TEN-E-VO ergibt (EWG (2) TEN-E-VO), ist die installierte Erzeugungskapazität. Weiter konkretisiert bspw. Pkt. 2.41.1 Ziff. i Anhang I der Governance-VO als eines von drei Kriterien zur Identifikation von Ausbaubedarfen, dass ein solcher besteht, wenn u.a. die nominale Übertragungskapazität der Verbindungsleitungen weniger als 30% der installierten Erzeugungskapazität aus erneuerbaren Energien beträgt. Angesichts des enormen Zubaus von EE-Anlagen und damit großer, gleichzeitig aber i.d.R. darbietungsabhängiger Erzeugungskapazitäten (d.h. solcher, die von Wind und Sonne abhängig und entsprechender nicht immer voll ausgelastet sind), entstehen Bedenken: Wird den im Dezember 2024 in Deutschland installierten ca. 168 GW Leistung aus Erneuerbaren gegenübergestellt, dass bspw. für die Anbindung der Offshore-Windparks in Nord- und Ostsee zu den bestehenden bzw. im Bau befindlichen rund 13 GW (ca. 4.000 km) (lediglich) ca. 2.400 km hinzukommen sollen sowie zentrale Elemente des aktuellen NEP fünf HGÜ mit einer Kapazität von jeweils 2 GW sind, wird deutlich, dass die auf diesem Wege geforderten Umfänge des Zubaus an Interkonnektoren – jedenfalls in Deutschland – eine Größenordnung hätten, wie sie z.T. für das gesamte inländische Übertragungsnetz vorgesehen ist. „Wieder eingehegt“ wird dieses Ergebnis lediglich über das Erfordernis der Durchführung einer Kosten-Nutzen-Analyse. Das zweite Kriterium von Pkt. 2.41.1 Ziff. i Anhang I Governance-VO nimmt hingegen die Spitzenlast als Marker – eine Größe die in Deutschland aktuell bei etwas über 70 GW liegt. Angesichts des erheblichen Delta zwischen den obigen 168, 44 GW und den ca. 70 GW erscheint fragwürdig, inwiefern die Zielvorgabe i.H.v. 15% und seine Bezugsgröße – beide etabliert im Jahr 2014 – und die Ausbaukriterien aus dem Jahr 2018 im stark veränderten Stromsystem des Jahres 2025 tatsächlich (noch) gut zur Aggregierung einer bedarfsgerechten Ausbaugröße dienen.

Soll jedoch das unionale Stromverbundziel und mit ihm letztendlich auch der Solidaritätsmechanismus des Art. 194 Abs. 1 AEUV als Versorgungssicherungsinstrument gestärkt werden, muss es operabel gestaltet sein. Notwendig ist hierfür zunächst, dass seine inhaltliche Vorgabe und Kriterien den enormen Umstrukturierungen der nationalen Stromsysteme im Zuge der „green transition“ umfassend Rechnung tragen. Nicht von der Hand zu weisen ist die Komplexität einer solchen Aufgabe; mit einem Bewusstsein für und eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik wären aber jedenfalls erste Schritte getan. Inwieweit die dafür notwendige Erweiterung des Blickes von der Erzeugungs- auf die Netzkomponente der Energiesicherheit im Rahmen der polnischen EU-Ratspräsidentschaft erfolgen wird, wird die Zeit zeigen.

Eva-Maria Thierjung ist wiss. Mitarbeiterin am Institut für Energie-, Umwelt- und Seerecht (IfEUS) der Universität Greifswald und promoviert im Rahmen des KOMUR zum Thema Prosuming im Stromsektor. Gleichzeitig ist sie seit seinem Beginn im Jahr 2020 an dem BMBF-geförderten Kopernikus-Projekt ARIADNE beteiligt und forscht insbesondere zu Fragen der Klima- und Energiegovernance der deutschen Energiewende im europäischen Mehrebenensystem.

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